Lassen Wir Uns „Teilen und Herrschen“?

Lassen Wir Uns „Teilen und Herrschen“?

Die Libertäre Wende

Libertarismus ist für die Gesellschaft, was die kopernikanische Wende für die Astronomie war. Die Astronomen glaubten damals, die Erde stünde im Mittelpunkt des Universums. Der Mond, die Sonne und die Sterne, alle kreisten sie um die Erde. So sieht das offensichtlich aus, man braucht ja bloß in den Himmel zu schauen. Die Kirche hatte diese Theorie als Teil ihrer Lehre und stützte damit ihre Legitimität. Aus heutiger Sicht können wir nachvollziehen, warum sich diese geozentrische Sichtweise etablierte und nur schwerlich überwunden wurde.

Als Kopernikus hinauf sah, konnte er nicht anders, als seinen eigenen Augen zu glauben. Was er sah: Die Erde steht nicht im Mittelpunkt des Universums, sondern die Erde kreist um die Sonne.

Libertäre können sehen, dass der Staat nicht der Mittelpunkt der Gesellschaft ist, sondern der Mensch; nicht das Kollektiv, sondern das Individuum. Libertäre können sehen, dass die Gesellschaft nicht durch ein Gewaltmonopol entsteht. Gesellschaft ist auch möglich, ohne Befehle und Weisungen von erleuchteten Königen und Zaren, ohne Verbote und Auflagen von weisen Ministern und Experten.

Libertäre können sehen, dass die Gesellschaft vor allem aus kulturellen Normen entsteht, die jeder einzelne mit sich trägt: Die Norm, den eigenen Willen Grenzen zu setzen, und zwar dort, wo dieser in den Willen eines anderen eingreift. Wer das für eine Vereinfachung hält, hat die Implikationen dieser Norm noch nicht konsequent durchdacht.

Wo Astronomen einst suchten, die Himmelsbahnen mit immer komplizierteren epizyklischen Kreisen zu erklären, suchen politisch denkende Menschen danach, von oben herab die Gesellschaft immer weiter zu reglementieren. Durch ein immer engeres Dickicht aus Verboten und Auflagen, aus Steuern und Subventionen, versuchen sie, das organisch und dezentral gewachsene Ökosystem aus zwischenmenschlichen Beziehungen in einen immer engeren Käfig zu sperren.

Aber der Staat und sein einziges Mittel, die Nötigung, sind nicht die ordnende Kraft der Gesellschaft. Jede seiner Maßnahmen erzeugt zwar sichtbare Ordnung an einer Stelle, aber es verursacht auch unsichtbare Konsequenzen an 100 anderen. Er produziert zwar Zahlen und Bilder, die breit plakatiert werden, aber viel größeres Leid, versteckt und verteilt auf Millionen Köpfe.

Wer immerzu nach oben schaut und der Staatsmacht zuruft, sie soll ihre Knarren und Knüppel hier oder dorthin richten, um anderen den eigenen Willen aufzuzwingen, anstatt seinen Mitmenschen auf Augenhöhe zu begegnen und mit ihnen zu verhandeln, der eskaliert damit den Krieg Aller gegen Alle. Wer das Gewaltmonopol legitimiert, immer mehr Lebensbereiche noch weiter mit Nötigung zu durchwuchern, der zerstört damit die Gesellschaft.

Einige Jahrzehnte nach Kopernikus, sollte Galileo Galilei die gleichen Beobachtungen nachvollziehen wie sein Vorgänger. Er vergewisserte sich über seine Schlussfolgerungen, veröffentlichte sie und wurde von der Kirche dafür verfolgt. So wie es für Galileo sicherlich opportun gewesen wäre, seine Erkenntnisse zu verschweigen, mit dem bestehenden System zu arbeiten, Kompromisse mit den Autoritäten zu machen, aus Pragmatismus von seinen ketzerischen Schlussfolgerungen abzuschwören, so geht es auch manchen Libertären. Die Verlockung ist groß, den Libertarismus durch allerlei modische Zusätze zu verwässern, seine extremeren Schlussfolgerungen abzustumpfen, ihn als lediglich eine weitere politische Strömungen unter vielen zu sehen. Libertarismus ist aber nicht bloß eine weitere Strömung der Politik. Libertarismus ist die Aufhebung der Politik. Wie weit diese Aufhebung gehen kann, darüber können wir streiten, aber kein Libertärer wird heute bestreiten, in welche Richtung die Reise gehen muss.

Wir Sind Libertär

Der einfacheren Sprache halber, gehe ich jetzt zum „wir“ über, womit ich alle Libertären meine. Ich maße mir diese Kollektivierung an, auch um mich zu ermahnen, nur zu sagen, worauf wir uns als Libertäre einigen können.

Galileo sagte über die Erde, leise in seiner Zelle: "Und sie bewegt sich doch!". So geht jedenfalls die Sage. Wir als Libertäre müssen uns ständig mit unseren Schlussfolgerungen verstecken. Unsere Inquisitoren sind in jedem Bekanntenkreis und in jeder Familie. Es ist eine Schande, wenn wir bei jedem Gespräch ein Blatt vor den Mund nehmen müssen, nicht frei reden können, so dass wir auch verstanden werden. Die wenigsten unserer Mitmenschen bringen die Geduld auf, uns zuzuhören, sondern es folgen Empörung, Unterstellungen und Ausgrenzung. Wir wollen uns nicht weiter verstecken müssen. Denn eines wissen wir und wir können es nicht leugnen: mit Freiwilligkeit, geht es doch!

Was ist Freiwilligkeit

Wir als Libertäre haben einen Fokuspunkt, worauf alle unsere Denkschulen zulaufen und wovon alle Vorstellungen über das gute Leben ausgehen. Diese Idee, im Kern des Libertarismus, ist die Idee der gleichen Freiheit. Hier sind eine negative und eine positive Formulierung der Idee:

  • Gewalt ist nur zur Selbstverteidigung und der Verteidigung des Privateigentums legitim. Initiierende Gewalt ist nicht legitim.
  • Es steht jedem frei, sein Leben so zu leben, wie er es möchte. Diese Freiheit findet ihre Grenzen nur, wo sie die Freiheit anderer verletzt.

Oder kürzer: Ich will weder jemandes Herrscher sein, noch jemandes Sklave. Ich will leben und leben lassen.

Die Herleitung dieser Kernidee und Ableitungen von ihr sind Inhalt unzähliger Bücher und Lebenswerke. Auch wenn wir uns nicht einig sind, welche Herleitungen vorzuziehen sind und wie weit man die Ableitungen führen kann, so sind wir uns doch einig, dass es diese Wahrheit gibt und dass wir in einer Gesellschaft leben wollen, wo diese Norm konsequent geachtet wird.

Politik ist Krieg

Jede Abweichung von der libertären Idee ist ein Schritt auf dem Weg in den Krieg. Es ist der Krieg aller gegen alle. Jedes neue Gesetz ist darin eine weitere Eskalation, jedes aufgehobene Gesetz ein Schritt auf dem Weg zum Frieden. Vom oberflächlichen Mangel offen ausgetragener Kämpfe sollte man sich dabei nicht täuschen lassen. Ein Sklave ist nicht weniger Sklave, weil er sich nicht wehrt. Wenn der Wille des einen über den eines anderen steht, dann ist einer die Obrigkeit, der andere Untertan. Wenn der eine Herrscher ist und der andere Sklave, dann gibt es bestenfalls den zerbrechlichen Frieden der Unterjochten.

Wenn Libertäre am politischen Diskurs teilnehmen, so als würde man nur unterschiedliche Abwägungen treffen, als wären andere Positionen gleichermaßen legitim, dann tragen sie dazu bei, für den Staat die Fassade der Legitimität zu erhalten. Es ist so, als würden wir Munition an eine Kriegspartei liefern, danach zur anderen Partei laufen, durch die Schussbahn, während man uns in den Rücken schießt, um dann der anderen Kriegspartei auch noch Munition zu liefern und das ganze von vorne zu beginnen.

Libertäre müssen sich aus dem Krieg raushalten. Wir müssen die Parteien des Kriegs zur Besinnung rufen und sie auffordern, mit den Friedensverhandlungen zu beginnen.

Libertarismus ist Frieden

Die formalen Abläufe der Politik sind Kriegsnebel. Die regelmäßigen Machtübergaben in Demokratien entspringen der leidvoll gewonnen Erkenntnis, dass der Krieg nicht weiter eskalieren sollte als nötig. In der Demokratie hat es sich etabliert den Krieg nur so weit zu eskallieren, bis der Leidensdruck der Unterjochten überhand nimmt. Demokratie ist also bestenfalls eine Vorstufe zum Frieden.

Wir als Libertäre suchen diesen Frieden. Wir wollen versuchen, den ewigen Krieg zu deeskalieren, bis alle Gesetze verschwunden sind und nur noch das gleiche Recht für alle gilt. Libertarismus ist kein Bündnis, kein Pakt und keine Vereinigung. Wir sind dezentral. Es gibt wohl Libertäre, die sich verbünden, aber darüber hinaus sind wir nur verbunden durch unsere Ideen.

Wer aus der politischen Welt kommt, wer nichts kennt außer den Krieg, dem wird das fremd sein. Zwar gab es, sogar auf der politischen Bühne in Deutschland, alle paar Generationen mal freiheitliche Einzelkämpfer, aber die starke Tendenz in der Politik ist der Kollektivismus. Politische Bewegungen zentralisieren sich zu Parteien, deren Häuptlinge sie in die Nähe der Macht rücken. Sie wollen den einen Ring, von dem wir als Libertäre wissen, dass er in die Feuern des Schicksalsbergs gehört.

Werte im Libertarismus

Aus der Ron Paul Revolution erinnere ich mich, welche Energie in der Botschaft des Friedens steckt. Der gute Doktor ist zwar ein tief religiöser Christ, aber angesichts seiner Treue zu libertären Prinzipien, habe ich nicht die geringste Befürchtung, dass er mir seine Werte aufzwingen würde.

Wir brauchen keine Wertevorgaben oder gar Moralkeulen, sondern Einsicht in die Grenzen unseres Wissens. Wir sollten uns davor hüten, über andere zu urteilen, wenn sie einen anderen Lebensweg gehen, als wir es für richtig halten. Alles hat Vor- und Nachteile, jeder hat unterschiedliche Vorlieben, Neigungen und Werte. Nicht zuletzt sollte jedem klar sein, wir sind alle fehlbar.

Die Werte von Ayn Rand werden oft missverstanden. Ich teile ihre Werte in Bezug auf Atlas, der den schöpferischen Geist symbolisiert, die Bedingung ist für jeden Fortschritt. Aber auch Ayn Rand hat Werte vertreten, die nicht zum Libertarismus gehören. So sehr wir Ayn Rand schätzen, das Rauchen und geistiges Eigentum gehören nicht zum Libertarismus. So sehr wir Ludwig von Mises schätzen, ein Minimalstaat ist nicht notwendigerweise Teil des Libertarismus. So sehr wir Markus Krall schätzen, das Christentum gehört nicht zum Libertarismus. So sehr ich mir das wünschen würde, Bitcoin gehört auch nicht zum Libertarismus. Jeder kann und soll energisch seine Werte vertreten, aber so wichtig sie einem auch sein mögen, sie sind deswegen nicht Teil der libertären Idee.

Über Jahrzehnte hat Ron Paul unter Beweis gestellt, dass er kein Opportunist ist, dass er seine Prinzipien niemals verraten wird. Diese Prinzipientreue ist von zentraler Bedeutung für den Erfolg der libertären Idee. Wer Frieden will, muss über jeden Zweifel erhaben sein, jemals Partei zu ergreifen, jemals seine Wertvorstellungen einem anderen aufzudrücken. Alle, die noch im Krieg verstrickt sind, beäugen jeden mit Argwohn, der nicht eindeutig auf ihrer Seite ist. Jedes unserer Worte steht unter Verdacht, mit Schlangenzunge gesprochen zu sein.

Lassen Wir Uns „Teilen und Herrschen“?

Ohne die Trennung von Werten und libertären Prinzipien wird der Libertarismus scheitern. Der Krieg wird niemals enden, wenn wir uns erst auf Werte einigen müssen. Einzig und alleine auf den libertären Minimalkonsens müssen wir uns einigen. Uns wegen Differenzen zu Spalten wäre ein Fehler. Es wäre besser wenn wir es schaffen Toleranz vorzuleben. Nicht nur die oberflächliche Toleranz des linken Zeitgeistes, sondern echte Toleranz, für die unterschiedlichsten Weltbilder und Werte.

Wer als Libertärer glaubt, Homosexuelle hätten in seiner Gemeinde nichts zu suchen, dem gestehe ich sein Recht zu, in solch einer Gemeinde zu leben, aber ich halte ihm auch zwei meiner Helden vor, Freddie Mercury und Alan Turing, und werde ein Glas Sekt trinken, zur Feier ihrer Leben und zum Trotz seiner Intoleranz.

Wer als Libertärer nichts mit religiösen Menschen zu tun haben möchte, dem gestehe ich zwar sein Recht zu, sich nur mit seinesgleichen zu assoziieren, aber ich halte ihm zwei weitere meiner Helden vor, Mohammed Ali und Ron Paul, und werde eine Kerze zünden, ob seiner Ignoranz.

Unsere Toleranz muss konsequent sein. Unsere Treue zu Prinzipien muss glaubhaft sein. Nur dann können wir hoffen, den Frieden zu sichern.

Postscript

Die Anregung zu diesem kleinen Manifest kam durch ein Artikel von Max Remke in Eigentümlich Frei. Pollux, ein weiterer Mitstreiter der Marktradikalen, hat dazu eine Reaktion geschreiben.

Mir lag es hier daran, genau wie Pollux sagte "Ein Gramm gutes Beispiel wiegt mehr als tausend Worte", einen Weg aufzeigen, den Max bisher nicht gesehen hat. Einen Weg, den Libertarismus populär zu machen, der das ausfüllt, was Max im Libertarismus bisher zu fehlen scheint.

Max hat in einem Recht: Es reicht nicht, rein auf der intellektuellen Ebene zu bleiben. Logik, Geschichte und Ökonomie genügen alleine nicht. Die libertäre Bewegung wird nur wachsen, wenn mehr Menschen sich in einer libertären Welt wiederfinden, wenn diese für sie glaubhaft skizziert wird. Wir werden nur überzeugen, wenn mehr Menschen erkennen, wie sie ihre Werte im Libertarismus aufleben lassen können.

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Manuel ₿
Autor
Manuel ₿